14.10.2022 | Anfang der 1990er Jahre erlebten Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen in den internationalen Beziehungen in Europa einen bis dahin selten gesehenen Aufschwung. Die NATO sicherte zu, sich nicht auszudehnen und die Regierungen aus Ost und West einigten sich auf Obergrenzen für schwere Waffen (KSE-Vertrag), Überflüge über die Territorien anderer Länder (Vertrag über den offenen Himmel) sowie in der „Charta von Paris“ darauf, fortan bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten. Zwischen den USA und der Sowjetunion gab es außerdem Verträge über das Verbot von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) und zum Verbot von Marschflugkörpern auf dem Lande (INF-Vertrag).
Doch es kam anders: Entgegen den Zusagen beschloss die NATO 1997, zu expandieren: Im März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Nordatlantikpakt bei – im selben Monat begann der völkerrechtswidrige Überfall auf Jugoslawien. In Nordnorwegen bauten die USA derweil ein Radarsystem auf, welches zur Überwachung russischer Interkontinentalraketen diente. Als die US-Regierung im Jahr 2002 den ABM-Vertrag kündigte, begann eine Spirale, die 20 Jahre später im Ukrainekrieg mündete. 2003 froren die NATO-Staaten den AKSE-Vertrag (der Folgevertrag für den KSE-Vertrag) ein und 2004 dehnte sich der Nordatlantikpakt ein weiteres Mal aus – dieses Mal bis ins Baltikum.
Die russische Regierung stieg 2007 aus dem KSE-Vertrag 2007 aus. Nur zwei Jahre später folgten jedoch mit dem Lawrow-Vertrag und dem Vertragsentwurf für einen europäischen Sicherheitsvertrag Initiativen aus Moskau, welche die Welle der Kündigungen von Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträgen stoppen sollten. Die NATO-Staaten ignorierten diese Vorschläge. Im Westen definierte man Sicherheit so, dass alles getan wurde, die eigene Sicherheit zu stärken – ohne Rücksicht auf andere Staaten.
Unter US-Präsident Donald Trump (im Amt 2017–2021) kündigten die USA außerdem noch den Vertrag über den offenen Himmel den und INF-Vertrag. Letzterer Schritt machte die Stationierung von Marschflugkörpern in Osteuropa möglich. Die russische Regierung sah die Gefahr, dass die NATO in der Ukraine Marschflugkörper stationieren könnte – ohne, dass das jemand angekündigt hatte. In Moskau verkalkulierte man sich und entsandte Truppen völkerrechtswidrig in das Nachbarland.
Das System der Verträge über Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen liegt in Trümmern – den Preis zahlt dafür nun die Bevölkerung der Ukraine. Um zu einem nachhaltigen Frieden zu kommen, muss die Aufrüstung beendet und müssen die Themen Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.
David X. Noack
aus: WanderfreundIn 03-2022