28.09.2020 | Die seit dem Mauerbau 1961 brach liegende Bahntrasse von Berlin nach Potsdam ist einmalig in Deutschland. Wie eine Perlenkette führt die Strecke durch die fünf "Großstädte" Berlin Mitte, Schöneberg, Steglitz, Zehlendorf und Potsdam. In jedem anderen Bundesland gäbe es zwischen diesen Städten eine Regionalbahn, an deren Sinn niemand zweifeln würde. In Berlin und Brandenburg hingegen scheitert diese attraktive Verbindung bislang an der mangelnden Entscheidungsfreude der Länder. Die Bürgerinitiative Stammbahn fordert die Reaktivierung der Stammbahn als Regionalbahn zwischen Potsdam, Kleinmachnow und Berlin Mitte.
Seit dem Mauerfall 1989, also seit nunmehr fast 30 Jahren, steigen auch die Pendler*innenzahlen im Öffentlichen Verkehr, und seitdem steht der Wiederaufbau der Stammbahn auf der Agenda. Die meisten Verkehrs- und Umweltverbände und das Gros der Parteien in Berlin und Brandenburg haben sich zur Stammbahn bekannt, in Berlin steht sie im Koalitionsvertrag. Schon im April 2017 empfahl das Bundesverkehrsministerium den Ländern „ein abgestimmtes Konzept zur Realisierung zu erstellen, damit eine GVFG-Förderung durch den Bund grundsätzlich möglich wird. Der Bund ist gerne bereit, das Projekt konstruktiv zu begleiten.“ (http://www.stammbahn.de/).
Im Oktober 2017 haben sich die Länder Berlin und Brandenburg sowie die Deutsche Bahn AG mit dem Entwicklungskonzept Infrastruktur (i2030) erstmals seit 1990 gemeinsam (!) zum Wiederaufbau der Stammbahn positioniert. Seitdem wird eine Vielzahl von Varianten geprüft, und zwar als S-Bahn oder Regional- oder S-Bahn, direkt (über Kleinmachnow) oder über Wannsee, mit und ohne Abzweig auf die Wetzlarer Bahn. Zuvor hatte schon der VBB bei Korridoruntersuchungen über zwei Jahre sechs Varianten prüfen lassen. Ein Abschluss der Prüfungen ist nicht in Sicht. Aber das Prüfen wird das Entscheiden nicht verhindern können.
Die BI Stammbahn hat in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem BUND Brandenburg, dem Berliner Fahrgastverband IGEB, dem Deutschen Bahnkundenverband DBV Nordost, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG Brandenburg sowie ARGUS Potsdam e.V. die zentralen Argumente zusammengefasst:
Den Bahnknoten Berlin vollenden: Die Stadtbahn zwischen Charlottenburg und Ostkreuz kann seit Jahren nicht mehr Verkehr aufnehmen, weil die Kapazität der beiden Regional- und Fernbahngleise überschritten ist. Die Stammbahn ermöglicht die Entlastung des völlig überfüllten RE 1. Kleinmachnow würde wieder einen Bahnanschluss erhalten. Und die Stammbahn würde den Knoten Berlin im Havariefall entlasten. All dies kann über das Industriegleis entlang der Wannseebahn über Nikolassee, Schlachtensee und Mexikoplatz nicht realisiert werden; die eingleisige Strecke könnte nur im 30‘-Takt befahren werden. Wie der Lärmschutz an der Trasse in 4-Meter-Dammlage und am angedachten Regionalbahnhof Mexikoplatz aussehen könnte, ist völlig unklar.
Den Menschen mehr Schiene bieten: Mit der Stammbahn könnten mehr Menschen mit der Regionalbahn aus Brandenburg an der. Havel, Götz, Groß Kreutz, Werder (Havel) und Potsdam über Kleinmachnow, Berlin-Zehlendorf, Berlin-Steglitz und Berlin-Schöneberg nach Berlin-Mitte fahren. Die Landeshauptstadt Potsdam, die Gemeinde Kleinmachnow, der Bezirk Berlin Steglitz-Zehlendorf, das Abgeordnetenhaus von Berlin und der Brandenburger Landtag haben sich bereits für die Stammbahn ausgesprochen.
Dem Klima nützen: Immer mehr Autos schieben sich täglich mangels Alternative aus dem Südwesten stadteinwärts. Durch einen attraktiven Schienenverkehr werden Pendler wie private Nutzer motiviert, auf das Auto zu verzichten – auch ein Beitrag zu Energiebewusstsein und Klimawandel. Deshalb haben die brandenburgischen Verbände BUND, NABU, ADFC, VCD, Grüne Liga und NaturFreunde sowie BUNDjugend, NAJU und Naturfreundejugend gefordert: "Die Stammbahn von Potsdam nach Berlin muss von der nächsten Landesregierung in die konkrete Planung gebracht werden.“ (http://www.stammbahn.de/).
Die Dauer der Diskussion um die Stammbahn, die Vielzahl der Varianten und das Alltagsleben der Pendler*innen verlangen nach politischer Entscheidung. Es ist schlicht unverständlich, dass die Länder ungeachtet all der guten Gründe und trotz freigehaltener Trasse, gewidmeter Eisenbahnstrecke und verfügbarer öffentlicher Mittel nicht zum Ergebnis kommen.
Mittlerweile mahnten selbst die Deutsche Bahn AG und VBB Entscheidungen an, wie im Juni im Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses. Anfang Juli hatten der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und die Allianz pro Schiene die Reaktivierung der Stammbahn vorgeschlagen. Und auch im 3. Entwurf zum Deutschland-Takt (Netzgrafik Nordost vom 30.06.2020) des Bundesministeriums für Verkehr ist die Stammbahn ein Baustein für den integralen Taktfahrplan.
Die Zeit ist reif für eine Entscheidung.
Hubertus Bösken, Elrita Hobohm, Rudolf Petrasch
aus: WanderfreundIn 03-2020