15.05.2021 | Das Abgeordnetenhaus von Berlin und der Berliner Senat entdecken eine alte Forderung aus der Zeit der ‚autogerechten Stadt‘ und wollen in Berlin Lebensqualität zurückgewinnen, indem die Schneisen der autogerechten Stadt in den Untergrund verlegt werden. „40 Jahre nach Fertigstellung der Wohnanlage Schlangenbader Straße wird in Berlin wieder die Überbauung von Verkehrswegen geprüft.“[1] Ziel der Überdeckelung oder Überbauung sei, diese „breiten, lärm- und abgasbelasteten Schneisen wieder für die Stadtgesellschaft nutzbar zu machen“[2]. Dabei hat diese Idee „schon in den 1970er Jahren Architekten und Planer begeistert“[3]. Die Überbauung der Schlangenbader Straße wurde im Jahr 1971 vom Architekten Georg Heinrichs entwickelt, der „die im Planungsprozess befindliche Randbebauung einer neuen Autobahntrasse in Berlin Wilmersdorf durch die Konzeption der Überbauung der Autobahn“[4] ersetzte.
Die NaturFreunde stehen diesen Überlegungen kritisch gegenüber. Die Idee den motorisierten Individualverkehr in den Untergrund der Städte zu verlagern gibt es seit den 1920er Jahren, als Architekt*innen erste futuristische Planungen vorlegten. Ziel der Überlegungen bis in die 1970er Jahre war dabei die „autogerechte Stadt“, die den ungehinderten Verkehrsfluss des motorisierten Individualverkehrs zum Ziel hatte. Die NaturFreunde sehen für die Schwerpunkte einer klimagerechten Verkehrsplanung für Berlin jedoch nicht in die Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs in den Untergrund, sondern eine systematische Zurückdrängung des Autos aus urbanen Großräumen. Ziel einer nachhaltigen und klimagerechten Verkehrspolitik muss sein, dass die Stadtplanung genau wie die Verkehrsplanung „in erster Linie für die Menschen und nicht für Autos gemacht sein müssen“[5]. Mit den jetzigen Diskursen wird jedoch der Vorrang des Autoverkehrs und seine möglichst flüssige Sicherstellung innerhalb Berlins weiter gesichert. Von einer klimagerechten Verkehrsplanung in Berlin muss jedoch erwartet werden, dass die Planungen der 1950er Jahre, in denen riesige Autoschneisen durch die Stadt gezogen wurden, grundlegend infrage gestellt werden. Diese Planungen führten dazu, dass die „vorrangige Berücksichtigung der Belange des Kfz-Verkehrs […] zunehmend in die Vorgaben zur Gestaltung von Straßen im Innerortsbereich“[6] einflossen.
DEGES erstellt Studie für Deckelung von Autobahnen
In Berlin wurde die DEGES[7] beauftragt, „eine Studie zur Überdeckelung der A100 zwischen Knobelsdorff- und Kaiserdammbrücke“[8] zu erarbeitet, um auf deren Grundlage über eine mögliche Überdeckelung zu entscheiden. Ziel der Studie sei, festzustellen, ob „ein Deckel technisch und finanziell realisierbar ist“[9] und dann mögliche „stadtplanerische Konzepte unter Beteiligung der Bürger“[10] zu entwickeln. Grundlage dieser Beauftragung durch den Berliner Senat ist, dass das Abgeordnetenhaus „den Senat schon im Juni 2019 aufgefordert [hatte] zu untersuchen, welche Verkehrsinfrastrukturflächen an Berliner Autobahn- oder Schienenabschnitten sich für eine Überdeckelung eignen könnten“[11]. Die DEGES untersucht hierbei zwei mögliche Varianten: „eine komplette Überdeckelung über Autobahn und Schienen und eine Überdeckelung nur der Autobahn plus baulicher Lärmschutz für die Bahnanlagen, um Anwohner vor dem Zugverkehr zu schützen“[12]. Mit der DEGES wurde vereinbart, dass „erste Ergebnisse der Machbarkeitsstudie […] im ersten Quartal 2021 vorliegen“[13] sollen.
Für die Erarbeitung der Studie wurden durch „die Regierungsfraktionen rund eine Million Euro Haushaltsmittel locker gemacht“[14], die „allerdings nur für eine Machbarkeitsstudie und erste Konzepte“[15] ausreichen. Die Initiative für die Studie wurde von der SPD-Fraktion eingebracht.[16] Der SPD-Abgeordnete Daniel Buchholz argumentierte, dass „sich hier ein Konsens ab[zeichnet], dass die autogerechte Stadt der sechziger und siebziger Jahre überholt ist“[17]. Er forderte weiter, dass der Senat „sich sämtliche Infrastrukturflächen der Stadt unter dem Aspekt anschauen [solle], ob sie sich zur Überbauung eignen“[18]. Buchholz führte weiter aus, dass es „eine Jahrhundertchance [sei], die wir nutzen sollten“[19]. Die Zeit für die Prüfung einer Überdeckelung sei derzeit ideal, da „die A 100 in Charlottenburg sowieso saniert werden [müsse]“[20] und geschaut werden solle, „ob sich dabei nicht neuer Stadtraum gewinnen lasse, wo bisher eine laute, stinkende Autobahn die Stadt zerschneidet“[21].
Intensive Diskussion im Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen
Im Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen legte der Senat eine Mitteilung über die Möglichkeiten zur Überdeckelung von Autobahnen vor, die aufgrund eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses vom 06.06.2019 erarbeitet werden musste.
Das Abgeordnetenhaus hatte beschlossen:
„Der Senat wird aufgefordert zu untersuchen, welche Verkehrsinfrastrukturflächen in Troglage sich für eine Überdeckelung eignen.
In diesen Untersuchungen sollen mindestens die folgenden Aspekte betrachtet werden:
- an welchen Berliner Autobahn- oder Schienenabschnitten in Troglage eine Überdeckelung technisch machbar ist,
- an welchen Berliner Autobahn- oder Schienenabschnitten eine Überdeckelung den höchsten Nutzen beim Emissionsschutz (Lärm, Stickoxide, Feinstaub etc.) für die unmittelbare Umgebung und damit die Anwohner*innen bringt,
- wie Flächen für Erholung, Sport, Gemeinschaftsnutzungen, Wohnen sowie Park- und Grünflächen geschaffen werden können,
- die räumliche Zusammenführung von durch Verkehrswege getrennten Stadtquartieren,
- mit welchen Kosten für die jeweiligen Standorte zu rechnen ist und an welchen Abschnitten durch eine ohnehin geplante wesentliche Änderung der Verkehrsanlage ein Anspruch auf Lärmschutz entstehen würde,
- untersucht werden soll mindestens für die Bereiche der A100, ob eine Integration eines Radschnellweges entlang der Autobahn möglich ist.
Der Senat wird aufgefordert, als erstes Pilotprojekt im Zuge der Planungen für Neu- und Ersatzbauten an der Stadtautobahn (BAB 100) in Charlottenburg vor Festlegung auf eine Vorzugsvariante unverzüglich mit einer Masterplanung für diesen Bereich zu beginnen.
Mit dieser sollen die Autobahnplanungen der 50er Jahre im Rahmen der ohnehin erforderlichen Neu- und Ersatzbaumaßnahmen für die dazwischen liegenden Autobahnabschnitte mit dem Ziel einer zukunftsorientierten und stadtverträglichen Neuplanung des gesamten Autobahnteilstücks überwunden werden. Hierbei ist auch zu untersuchen, ob eine Verlegung der Autobahnauf- und -abfahrten „Kaiserdamm“ an die Kaiserdammbrücke vorgenommen werden kann.
Der Senat wird aufgefordert, sich als weiteres Pilotprojekt dafür einzusetzen, für den 16. Bauabschnitt der A100 vom Dreieck Neukölln bis AS Treptower Park eine Deckellösung zu realisieren, um Flächengewinne für die wachsende Stadt, u.a. durch Tunnelführung des 16. Bauabschnitts bis zur AS Treptow, zu erreichen und ein städtebauliches Konzept für die Gestaltung der so entstehenden oberirdischen gedeckelten Abschnitte zu ermöglichen.
Als Projekt zur Deckelung von Schienenstrecken in Troglage ist der Bahngraben der Ringbahn zwischen Schönhauser Allee und Prenzlauer Allee vorrangig zu untersuchen. Dem Abgeordnetenhaus ist erstmals zum 31.12.2019 und dann halbjährlich zu berichten.“[22]
In der Mitteilung begrüßt der Senat „ausdrücklich die angestoßene Diskussion hinsichtlich einer Deckelung von durch Verkehrsinfrastruktur belegte städtische Flächen“[23], da sich „durch eine Überdeckelung von Verkehrsinfrastrukturflächen in Troglage […] zusätzliche innerstädtische Flächenpotenziale erschließen und zerschneidende Wirkungen beheben“[24] ließen. Aufgrund begrenzter Kapazitäten werde sich die Untersuchung auf eine Machbarkeitsstudie für einen Pilotbereich konzentrieren. Dabei sei „aus stadtplanerischer Sicht […] der im Trog verlaufende Bereich der A 100 zwischen Knobelsdorffbrücke und Kaiserdammbrücke für ein Pilotprojekt geeignet“[25], da in diesem Bereich „die zerschneidende Wirkung der Stadt durch die dort verlaufenden Verkehrsträger besonders prägend [sei], obwohl diese Troglage einen weitgehend natürlichen Ursprung hat“[26].
Dagegen sei weder „im Bereich des AD Funkturm, noch im Bereich Westendbrücke bzw. Rudolf-Wissell Brücke und AD Charlottenburg […] wegen der technischen Randbedingungen (Höhenlage, Bahnanlagen, Bahnhöfe usw.) eine Deckelung umsetzbar, so dass die Ersatzneubauplanungen wegen der dramatischen Situation der Bestandsbauwerke weitergeführt werden“[27] müssten.
Daniel Buchholz führte aus, dass die „Koalitionsfraktionen seien hingegen der Ansicht, dass die seltene historische Chance, die sich im Zuge einer Brückenerneuerung auftue, genutzt werden müsse, um die Autobahn zu überdeckeln“[28]. In der Sitzung kritisierte er, dass der Senat „nur bezogen auf den kleinen Streckenabschnitt zwischen Knobelsdorff- und Kaiserdammbrücke der Ansicht [sei], dass sich eine Überprüfung lohne“[29] und argumentierte, dass es aber „Aufgabe der Stadtentwicklung [sei], einen Masterplan für die Errichtung neuer Stadtgebiete und die Schaffung neuer Grünflächen zu entwickeln“[30].
Für den Senat vertrat Senatorin Katrin Lompscher die Meinung, dass der städtebauliche Sinn „ihrer Ansicht nach unstrittig [sei], da jeder Flächengewinn in der inneren Stadt zu begrüßen sei“[31]. Am Autobahndreieck sei aber „eine Überdeckelung aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll“[32]. Dies gelte ähnlich auch für die Rudolf-Wissel-Brücke. Deshalb bleibe „vor diesem Hintergrund […] als Pilotprojekt im Bereich der A 100 nur das Teilstück zwischen Knobelsdorff- und Kaiserdammbrücke übrig“[33]. Beim Bahngraben zwischen Schönhauser Allee und Prenzlauer Allee „sei sie wenig optimistisch, dass mit der Deutschen Bahn kurzfristig eine Abstimmung möglich sei“[34], auch wenn es „planungstechnisch sei interessant, was das Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie in den Achtzigerjahren zur Überdeckelung dieses Bahngrabens an Ideen entwickelt habe“[35].
Katrin Vietzke von der Senatsverwaltung führt aus, dass in Charlottenburg „die A 100 zwar in Troglage [verlaufe], aber mittig zwischen den Richtungsfahrbahnen befänden sich diverse Anlagen der Bahn, teilweise mit Bahnhöfen, deren Aufgangsbauwerke auf die überquerenden Stadtstraßenbrücken führten. Um die technische Machbarkeit – z. B. Deckelungsbreiten und Bauhöhen – zu prüfen, habe man sich für einen Abschnitt entschieden, der städtebaulich interessant sei und bei dem man davon ausgehe, dass der Umgang mit den mittig geführten Bahnanlagen noch relativ einfach sei. Da das Ergebnis der Machbarkeitsstudie möglichst auf andere Abschnitte in Troglage übertragbar sein solle, sei ein Abschnitt gewählt worden, der keine unlösbaren Probleme mit sich bringe.“[36]
Katalin Gennburg von der Fraktion DIE LINKE argumentierte, dass „in Zeiten der Mobilitätswende […] auch ungewöhnliche Ideen“ umgesetzt werden müssten und deshalb „angesichts maroder Brücken […] gemäß einer neuen Vision [diese] aufbaue und Autobahnen überdeckele“[37]. Beim Streckenabschnitt am Treptower Park sei die Idee „dort eine Deckellösung zu bauen, die helfe, die mit dem Abschluss voraussichtlich verbundenen Probleme zu mindern“[38]. Sie kritisierte, dass „auf die Forderung an den Senat sich als weiteres Pilotprojekt dafür einzusetzen, für den16. Bauabschnitt der A100 vom Dreieck Neukölln bis AS Treptower Park eine Deckellösung zu realisieren, um Flächengewinne für die wachsende Stadt, u. a. durch Tunnelführung des 16. Bauabschnitts bis zur AS Treptow, zu erreichen und ein städtebauliches Konzept für die Gestaltung der so entstehenden oberirdischen gedeckelten Abschnitte zu ermöglichen“[39] in der Mitteilung nicht eingegangen werde.
Daniela Billig von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „hält es ebenfalls für sinnvoll, angesichts des dringenden Handlungsbedarfs an den Brücken jetzt über eine Deckelung von Autobahnabschnitten nachzudenken“[40]. Beim Bahngraben im Prenzlauer Berg gebe „es hierzu scheinbar schon seit den Achtzigerjahren Überlegungen für eine Deckelung“[41]. Der diskutierte Streckenabschnitt sei „schmal und überschaubar“ und es ständen „wenige Gebäude im Weg“[42]. Deshalb „sei es verwunderlich, dass die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz diesen Bereich nicht als Pilotprojekt ausgewählt habe“[43].
Senatorin Katrin Lompscher hielt den Forderungen der Abgeordneten entgegen, dass der Grund, warum „bei der Überdeckelung von Infrastruktur keine Fortschritte gemacht worden seien [daran liege], dass das Thema in der Vergangenheit keine Rolle gespielt habe“[44]. Bei der Überdeckelung der A 100 könne „der Planfeststellungsbeschluss zur A 100 im Bereich Treptow/Neukölln […] nicht einfach geändert werden“[45] und deshalb müsse der Senat „mit den Gegebenheiten umgehen“[46]. Weiter Lompscher: „Dass der Bahngraben im Prenzlauer Berg nicht als Pilotprojekt ausgewählt worden sei, liege in erster Linie an der Deutschen Bahn.“[47]
Vielfältige Forderungen und Aktivitäten
Die SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill hat im Jahr 2019 auf change.org eine Petition unter dem Titel „Grün, Gesund, Gerecht - Deckel auf die A100!“[48] gestartet, die von 2171 Bürger*innen unterschrieben wurde. Als Erstunterzeichnende konnte sie dabei unter anderem den SPD-Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, den Landesgeschäftsführer vom BUND Berlin, Tilmann Heuser und den Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann, gewinnen.[49] In der Petition wird argumentiert, dass „die A100 Charlottenburg wie eine Schlucht aus Abgasen und Beton“[50] den Stadtteil trennt und mit einem Deckel „die Abgase abgesaugt werden und die angrenzenden Kieze wieder zusammenwachsen“[51] könnten. Durch eine Überdeckelung „würden die giftigen Emissionen kontrolliert, die permanente Lärmbelästigung ein Ende haben und der alte Stadtraum wieder geschlossen werden. Auf dem Deckel können neue Wohnräume, Kitas, Schulen, Senioreneinrichtungen entstehen und Kleingärten oder Parks angelegt werden“[52]. Weiter weist die Petition darauf hin, dass „täglich an die 200.000 Autos, die auf der sechsspurigen Straße unterwegs sind […] die Strecke eine der meistbefahrensten Abschnitte Deutschlands“[53] sei. Durch dieses hohe Verkehrsaufkommen übersteigen „Feinstaub- und Stickoxidwerte in den angrenzenden Straßen […] weit das gesetzlich Erlaubte“[54].
Auch die Berliner Grünen unterstützen die Prüfung für die Überdeckelung der Stadtautobahn. Sie hatten sich 2018 das Hamburger Projekt der Überdeckelung angeschaut „und waren begeistert“[55]. Die Hamburger Projekte werden bis 2025 eine Milliarde Euro kosten[56], wovon „das Land Hamburg […] 300 Millionen Euro“[57] beiträgt. In Hamburg werden eine „890 Meter lange Röhre in Hamburg Stellingen“[58] und bis 2025 Deckelungen für „die Autobahn A 7 in den Stadtteilen Schnelsen (550 Meter) und Altona (2,2 Kilometer)“[59] gebaut. „Auf den Deckel kommt nach Fertigstellung eine 1,50 Meter hohe Schicht Erde. Kleingartenanlagen und Parks sollen dort entstehen.“[60]
Forderung nach Autobahnüberdeckelung für Berlin
In Berlin sei „eine Autobahndeckelung […] auch am Dreieck Funkturm denkbar“[61] An der Stadtautobahn A 100 könne „nördlich des ICC […] bis zur Knobelsdorffstraße“[62] eine Überdeckelung geprüft werden, da „in diesem 850 Meter langen Abschnitt […] die Straße ohnehin schon im Trog“[63] verlaufe.
Eine Überdeckelung würde nach Ansicht der Grünen „jede Menge Möglichkeiten bieten - sei es, dass Kleingärten darauf angesiedelt werden könnten, Parks und Grünanlagen, oder auch Neubauten, je nach Tragkraft“[64] entstehen könnten. Auch könnten nach Ansicht der Grünen „der Deckel Ausweichfläche für Kleingärten bieten, deren Areale eigentlich als Baulandreserve vorgesehen sind“[65]. Auch der „Stadtentwicklungsausschuss hat sich bei einer Dienstreise nach Barcelona ein ähnliches Projekt angeschaut“[66].
Die Fraktion DIE LINKE hat sich im Rahmen der Autobahnsanierung „für einen teilweisen Rückbau auf vier Spuren“[67] ausgesprochen. Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion DIE LINKE waren sich einig, „dass der Deckel ein begrüßenswerter Versuch sei, die ‚Wunden der autogerechten Stadt zu heilen‘“[68].
Für Überdeckelung von Autobahnabschnitten hat sich auch die Bezirksverordnetenversammlung von Tempelhof-Schöneberg ausgesprochen. Sie fordert, „die Überbauung des Schöneberger Autobahnkreuzes, des sogenannten Kleeblatts“[69] und spricht sich „für den Rückbau der vom Steglitzer Kreisel zum Sachsendamm führenden Westtangente aus“[70]. Der Antrag stimmten SPD, Grüne und Linke zu. Auf der Überdeckelung „könnte beispielsweise ein neues Stadtquartier mit rund 1500 Wohnungen, Infrastruktur und Gewerberäumen entstehen“[71]. Ein weiterer Vorteil einer solchen Überdeckelung sei, dass „Stadtviertel, die durch Schienentrassen oder Autobahnschneisen getrennt sind, wieder miteinander verbunden werden“[72].
Die Diskussionen haben in Berlin im Jahr 2019 dann weiter Fahrt aufgenommen. So fordert der Reinickendorfer CDU-Abgeordnete Tim-Christopher Zeelen eine „Machbarkeitsstudie auch für die A 111 beziehungsweise die Gleise der S 25 in Tegel durchführen zu lassen“[73]. Zeelen argumentiert: „Wenn Autobahn und S-Bahngleise zwischen Waidmannsluster Damm und Wittestraße vollständig unter der Erde verschwinden, wachsen die Ortsteile Tegel und Borsigwalde zusammen. Dafür müssten Teile überbaut, andere Teile unter die Erde verlegt werden. Dadurch würde auch die Schranke in der Gorkistraße der Vergangenheit angehören. Die neu gewonnenen Flächen könnten dann für Wohnen, Erholung und Sport genutzt werden“.[74] Weiter argumentiert er, dass „durch die Verkehrsberuhigung werden die Anwohner entlastet, Flächen für Parkraum, Sport und Wohnungen entstehen“[75].
Grund für eine mögliche Überbauung wäre nach Ansicht des Abgeordnetenhauses, dass die Verkehrssituation durch die Überbauung dazu führen würde, dass „es leiser, die Luft […] besser und die Fläche auf dem Deckel […] sich für andere Zwecke nutzen“[76] genutzt werden könne. Eine Möglichkeit für eine solche Nutzung können „Grünanlagen oder neue Wohnungen“[77] sein. In Berlin wären theoretisch „Verkehrsstraßen von insgesamt 500 Kilometern Länge überbaubar“[78]. Als Beispiel „für eine geschlossene Verkehrsfläche“[79] wird der Britzer Tunnel genannt. „Über der mehrspurigen Schnellstraße gibt es Grünanlagen, Spielplätze und Radwege.“[80]
Der Tagesspiegel argumentiert, dass in Hamburg „Deckel bereits an drei Stellen seiner Stadtautobahn geschaffen und damit einen großen Erfolg erzielt [wurden], insbesondere ist es jetzt für die Anwohner flüsterleise, und die Luft ist auch besser“[81]
Überdeckelung bringt keine klimagerechte Verkehrswende
Die derzeitigen Diskussionen über mögliche Autobahnüberdeckelungen sind keine Lösung für eine nachhaltige und ökologische Verkehrswende in Berlin. Um eine klimagerechte Verkehrspolitik für Berlin durchzusetzen, muss eine durchgängige Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs erreicht werden. Die Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs ‚unter die Erde‘ ist dabei keine Lösung. Durch die Überdeckelung nehmen die Gesamtemissionen des Verkehrs in keiner Weise ab, sie werden nur durch ein Röhrensystem neu verteilt. Auch lösen solche technischen Überlegungen nicht das Problem, dass die hohen Verkehrsströme irgendwann aus den überdeckelten Bereichen herauskommen und dann in die Straßen hineindrängen.
Die Berliner Woche berichtet euphorisch: „Oben grüne Kleingärten, Parks und Spielplätze, unten drunter rauscht der Verkehr: Die nachträgliche Überdeckelung von Autobahnen schafft neuen Platz und eine lebenswertere Stadt.“[82] Die Diskussion um Überdeckelung ist für einzelne Stadtteile und Kieze durchaus eine deutliche Entlastung von Lärm und Abgasen, bringt aber für den gesamten urbanen Großraum Berlins keine Entlastung. Gleichzeitig sind solche technischen Lösungen ungeheuer teuer. Die NaturFreunde halten deshalb solche Überlegungen nicht für zielführend. Mittelfristiges Ziel muss vielmehr die Schaffung einer autofreien oder zumindest autoarmen Stadt sein. Autobahnen in Großstädten sind das Ergebnis der verfehlten Verkehrspolitik der 1950-1980er Jahre, in denen die autogerechte Stadt gestaltet wurde. Eine Verlagerung des Verkehrs in den Untergrund mit riesigen Investitionssummen sorgt jedoch dafür, dass weiterhin ein reibungsloser motorisierter Individualverkehr in Berlin ermöglicht wird. Die aktuellen Diskussionen laufen deshalb allen Bestrebungen nach einer deutlichen Reduzierung des Verkehrsaufkommens mit dem Auto entgegen.
Die NaturFreunde haben dabei ihr Ziel eindeutig formuliert: „Ziel einer sozial- und klimagerechten Verkehrspolitik muss eine konsequente Vermeidung und Verlagerung von Verkehren sein. Ein klimagerechter Verkehr findet vor allem über den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), Bahn sowie Fuß- und Fahrradverkehr statt. Hierfür muss ein massiver Ausbau der Bahn und des öffentlichen Nahverkehrs im Mittelpunkt der Verkehrspolitik stehen. Bis spätestens 2035 muss eine vollständige Dekarbonisierung von Kraftstoffen umgesetzt werden.“[83]
Weiter wird in dem Beschluss aufgeführt: „Eine klimagerechte Verkehrspolitik muss den öffentlichen Nah- und Fernverkehr und den Fuß- und Radverkehr in den Mittelpunkt der Verkehrsplanungen stellen. Ziel ist die drastische Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs. Die NaturFreunde unterstützten die Initiativen in den Städten und Regionen zur Schaffung von autofreien Innenstädten.“[84] Milliardenschwere Investitionen in die Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs unter die Erde sind für eine solche ökologische und soziale Verkehrswende der falsche Weg.
Die NaturFreunde Berlins werden deshalb in den nächsten Jahren vor den möglichen Investitionsvorhaben warnen und in eine gesellschaftliche Diskussion für eine klimaverträgliche Verkehrspolitik in Berlin eintreten. Sie wollen erreichen, dass Gelder für den Verkehrsbereich für den Ausbau der ÖPNV und nicht für eine autogerechte Stadt ausgegeben werden. Das Ziel ist dabei klar: „Konsequenter Ausbau von Fußwegen und Fußgänger*innenbereichen in den Innenstädten durch Zurückdrängung des Raumes für den motorisierten Individualverkehr“[85]. Überdeckelungen helfen bei einer solchen grundlegenden Veränderung der Verkehrspolitik jedoch nicht weiter. Weiter fordern die NaturFreunde, den „Ausbau von Radwegen und Radschnellwegen grundsätzlich auf Straßen durch Rückbau von mehrspurigen Straßen und der Aufgabe von Parkräumen für Autos“[86].
Uwe Hiksch
[1] Isabell Jürgens, Wohnen über der Autobahn: Ein Modell wird wiederentdeckt, in: Berliner Morgenpost, 13.12.2020, siehe: https://www.morgenpost.de/berlin/article231124486/Wohnen-ueber-der-Autob...
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Karen Beckmann, Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnprojekte der 1970er Jahre, 2015, S. 231
[5] VCD, Stadt statt Autobahn, in: Prof. Dipl.-Ing. M.Sc. Ingrid Burgstaller, FRANKENSCHNELLWEG urban. Baut Stadt!, Mai 2017, S. 13.
[6] Prof. Dr.-Ing. Harald Kipke, Von der autogerechten Stadt zur menschengerechten Stadt, in: Prof. Dipl.-Ing. M.Sc. Ingrid Burgstaller, a.a.O., S. 17.
[7] DEGES Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH ist eine am 7. Oktober 1991 gegründete Projektmanagementgesellschaft. Sie sollte die Planung und Baudurchführung der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) schneller realisieren.
[8] Sabine Beikler, Senat beschließt Machbarkeitsstudie für Autobahndeckel in Charlottenburg, in: Der Tagesspiegel, 23.06.2020, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/bekommt-die-a100-einen-ueberbau-senat...
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Dirk Jericho, Erste Machbarkeitsstudie zur Autobahnüberdeckelung soll im Frühjahr vorliegen, in: Berliner Woche, 31.12.2020, siehe: https://www.berliner-woche.de/charlottenburg/c-verkehr/erste-machbarkeit...
[13] DEGES, A 100: Machbarkeitsstudie Überdeckelung der A 100 zwischen der Knobelsdorffbrücke und der Kaiserdammbrücke, in: DEGES, ohne Datum, siehe: https://www.deges.de/projekte/projekt/a-100-machbarkeitsstudie-ueberdeck...
knobelsdorffbruecke-und-der-kaiserdammbruecke/
[14] Sabine Beikler, Senat beschließt Machbarkeitsstudie für Autobahndeckel in Charlottenburg, a.a.O.
[15] Ulrich Zawatka-Gerlach, Erste Million für einen Autobahndeckel, in: Der Tagesspiegel, 19.09.2019, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/mehr-geld-fuer-umwelt-und-verkehrswen...
[16] Ebd.
[17] Fatina Keilani, Fast alle Fraktionen wollen den Deckel, in: Der Tagesspiegel, 16.05.2019, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/autobahn-fast-alle-fraktionen-wollen-...
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Der Senat von Berlin - UVK – V B, Mitteilung - zur Kenntnisnahme – über Deckel drauf: Infrastrukturflächen mehrfach nutzen - Drucksachen Nrn. 18/1776 und 18/1966, in: Abgeordnetenhaus Berlin, Drucksache 18/2384, 20.12.2019, S. 3f.
[23] Ebd. S 4.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Ebd.
[27] Ebd., S. 5.
[28] Abgeordnetenhaus Berlin, Inhaltsprotokoll Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen, 18. Wahlperiode, Inhaltsprotokoll StadtWohn 18/52, 52. Sitzung vom 29.01.2020, S. 5.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Ebd.
[32] Ebd.
[33] Ebd.
[34] Ebd., S. 6
[35] Ebd.
[36] Ebd.
[37] Ebd.
[38] Ebd., S. 7.
[39] Ebd.
[40] Ebd., S. 8.
[41] Ebd.
[42] Ebd.
[43] Ebd.
[44] Ebd.
[45] Ebd.
[46] Ebd.
[47] Ebd.
[48] Ülker Radziwill, Grün, Gesund, Gerecht - Deckel auf die A100!, in: change.org, ohne Datum, siehe: https://www.change.org/p/senatsverwaltung-f%C3%BCr-umwelt-verkehr-und-kl...
[49] Ebd.
[50] Ebd.
[51] Ebd.
[52] Ebd.
[53] Ebd.
[54] Ebd.
[55] Fatina Keilani, Fast alle Fraktionen wollen den Deckel, a.a.O.
[56] Sabine Beikler, Kommt ein Deckel auf die A 100?, in: Der Tagesspiegel, 30.08.2018, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-stadtautobahn-kommt-ein-deck...
[57] Ebd.
[58] Ebd.
[59] Ebd.
[60] Ebd.
[61] Ebd.
[62] Ebd.
[63] Ebd.
[64] Fatina Keilani, Fast alle Fraktionen wollen den Deckel, a.a.O.
[65] Ebd.
[66] Ebd.
[67] Ebd.
[68] Ebd.
[69] Sigrid Kneist, BVV für Überdachung der A 100 und Rückbau der Westtangente, in: Der Tagesspiegel, 16.05.2019, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/stadtentwicklung-in-tempelhof-schoene...
[70] Ebd.
[71] Ebd.
[72] Ebd.
[73] Gerd Appenzeller, Abgeordneter fordert Überbauung der A 111 in Tegel, in: Tagesspiegel Leute Reinickendorf, 15.05.2019, siehe: https://leute.tagesspiegel.de/reinickendorf/macher/2019/05/15/81776/abge...
[74] Gerd Appenzeller, Abgeordneter fordert Überbauung der A 111 in Tegel, a.a.O.
[75] Ebd.
[76] Ulrich Zawatka-Gerlach, Erste Million für einen Autobahndeckel, a.a.O.
[77] Ebd.
[78] Ebd.
[79] Ebd.
[80] Ebd.
[81] Fatina Keilani, Fast alle Fraktionen wollen den Deckel, in: Der Tagesspiegel, 16.05.2019, siehe: https://www.tagesspiegel.de/berlin/autobahn-fast-alle-fraktionen-wollen-...
[82] Dirk Jericho, Erste Machbarkeitsstudie zur Autobahnüberdeckelung soll im Frühjahr vorliegen, in: Berliner Woche, 31.12.2020, siehe: https://www.berliner-woche.de/charlottenburg/c-verkehr/erste-machbarkeit...
[83] NaturFreunde Deutschlands, Mobilität klimaverträglich sichern, Beschluss des Bundesausschusses der NaturFreunde Deutschlands vom 30.04.2020, in: NaturFreunde Deutschlands, siehe: https://www.naturfreunde.de/mobilitaet-klimavertraeglich-sichern
[84] Ebd.
[85] Ebd.
[86] Ebd.