02.09.2022 | Wenn die Sonne lockt und die Temperaturen steigen, streben viele von uns in die Natur oder entfliehen der Hitze in Richtung Badeseen oder Ost- und Nordsee. Auch Städtetrips sind sehr beliebt. Dann von Juni bis August für neun Euro im Monat den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen zu können und das bundesweit, ist an sich eine gute Sache. Dass das 9-Euro-Ticket sehr beliebt ist, zeigen die Zahlen: Bis Ende Juli 2022 hatten bereits mehr als 21 Millionen Menschen solch ein Ticket erworben. Zudem gilt das Ticket auch für die bundesweit etwa 10 Millionen Abonnent*innen.
Die Kehrseite des vom Bundestag am 19. Mai als Teil des Entlastungspaketes in Reaktion auf die erwartete Energiekrise beschlossenen 9-Euro-Tickets zeigt sich in der Realität: Bahnhöfe sind überfüllt. In den Zügen sitzen und stehen die Menschen dicht gedrängt, insbesondere auf den beliebten Strecken. Fahrgäste, die auf Rollstühle oder Gehhilfen angewiesen sind, haben das Nachsehen. Für sie ist es noch schwieriger, in den vollen Zügen einen adäquaten Platz zu bekommen. Gleiches gilt für Fahrgäste, die mit einem Kinderwagen unterwegs sind. Auch Fahrräder können kaum mitgenommen werden. Pendler*innen äußern ihren Unmut, manche steigen derweil aufs Auto um. In den übervollen Zügen sind Kontrolle und Service durch das Zugbegleitpersonal kaum möglich. Übervolle Züge führen zu beträchtlichen Verspätungen und nicht selten ist die Durchsage zu hören, dass der Zug wegen Überfüllung nicht weiterfahren darf. Beim Bahnpersonal nimmt die Überlastung enorm zu, die Krankheitsquote steigt.
So erstrebenswert ein günstiger öffentlicher Personennahverkehr auch ist, mit einer Vorlaufszeit von nur vier Wochen war eine Vorbereitung auf den zu erwartenden Ansturm nicht möglich. Da nützen auch die immer lauter werdenden Rufe nach mehr Personal und zusätzlichen – oder mindestens längeren – Zügen nichts, denn der Ansturm trifft im Regionalverkehr auf Bahnunternehmen, deren Angebote aufgrund des auch hier geltenden Wettbewerbs im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems nahezu ohne Reserven kalkuliert werden. Die einzelnen Bundesländer schreiben ihre Anforderungen an den Regionalverkehr öffentlich aus und die Bahnunternehmen, private Bahnen wie auch Deutsche Bahn, reichen basierend auf ihren Kalkulationen entsprechende Angebote ein. Die Folge ist ein Unterbietungswettbewerb. Eine größere Reserve, so wichtig und sinnvoll sie auch ist, würde die Rendite schmälern. Und so fehlen nicht nur Züge, sondern auch Personal und Schienennetzkapazitäten. Allerdings gibt es diese Probleme nicht nur bei den Eisenbahnen des Nahverkehrs. Auch die U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse vor allem in den Ballungsräumen weisen Überlastung auf. So verfügt das Land Berlin mit dem Verkehrsverbund über das größte Nahverkehrsnetz in Deutschland und auch hier wurden in den vergangenen Jahrzehnten weder nennenswerte Verbesserungen noch größere Investitionen geleistet.
Das 9-Euro-Ticket ist an sich eine gute Idee und doch zu kurz gedacht. Ein kostengünstiger oder gar kostenloser Nahverkehr ist absolut erstrebenswert. Voraussetzung dafür ist eine mittel- bis langfristige Planung, eine kostendeckende finanzielle Ausstattung und eine Politik, die wirklich und dauerhaft gewillt ist, sich von der Profitlogik abzuwenden – im öffentlichen Nahverkehr (und der öffentlichen Daseinsvorsorge insgesamt). Nur so sind langfristig Entlastungen für die Menschen möglich und ein bedeutender Schritt für mehr Klimaschutz wäre getan!
Doreen Biermann
aus: WanderfreundIn 03-2022