07.05.2021 | „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“
Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Band 3, S. 46.
Im Marx-Lesekreis der NaturFreunde Berlin nähern sich die Teilnehmer*innen zuallererst der Frage an, ob die Aussage aus dem zu diskutierenden Text zutreffen und ob sich dieser Theorieansatz auch auf die heutige Zeit übertragen lässt. Sind die Gedanken der herrschenden Klasse die herrschenden Gedanken? Ist eine solche Analyse in der Zeit von Internet und neuen sozialen Medien noch zeitgemäß? Lassen sich Menschen die Gedanken durch die herrschende Klasse oktroyieren oder sind die in einer Gesellschaft vorhandenen Theorien ausdifferenzierter? Kann heute eine herrschende Klasse, wirklich über die Mittel zur geistigen Produktion bestimmen? Oder aber auch die Frage: Gibt es heute noch Klassen und eine herrschende Klasse? Fragen über Fragen. Auf dieses Fragen kann es sehr unterschiedliche Antworten geben, die offen ausgetauscht und eingeschätzt werden.
Die Diskutierenden bringen dabei ihr vielfältiges und sehr unterschiedliches Wissen und ihre Analyse aus den verschiedenen Erfahrungen ihrer Arbeit und der Diskussionen aus ihrem Umfeld ein. Nachdem die Einschätzung über den Text von verschiedenen Seiten vorgenommen wurde, werden Nachfragen, mögliche Neuinterpretationen und heutige Diskurse vorgestellt und diskutiert. Zum Schluss der Debatte wird versucht, die verschiedenen theoretischen Möglichkeiten zusammenzufassen. Nach der Diskussion wird der nächste Textteil aufgerufen und gemeinsam diskutiert.
Lesekreis tritt sich seit zwei Jahren
Seit zwei Jahren treffen sich Interessierte zweimal im Monat, um sich mit den theoretischen Klassikern der politischen Linken zu beschäftigen. Der Marx-Lesekreis diskutiert unterschiedliche Fragen anhand der Analysen der Vordenker*innen der Arbeiter*innenbewegung. In dem Lesekreis werden Texte von Marx und Engels und ihre Weiterentwicklung in den nachfolgenden Jahren diskutiert. Bisher wurden als Themenkreise die „Entfremdung des Menschen in und von der Arbeit“, der „Wert der Arbeit“, die Klassentheorie seit Marx, die Frage, wie sich Gesellschaften entwickeln und die Sichtweise unterschiedlicher Klassiker*innen auf die Frage „Was ist Kommunismus?“ gelesen. Dabei werden Klassiker von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Paul Lafargue, Karl Korsch mit Texten von Lenin oder Bucharin verglichen. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen Fragen über die Aktualität der Texte, und die Bildung eines eigenständigen Standpunktes zu den verschiedenen Interpretationen der Klassiker.
Ziel des Arbeitskreises ist nicht, die Bildung einer gemeinsamen Theoriesicht zu ermöglichen, sondern die Texte kennenzulernen und den/der Einzelnen ihre eigene Interpretationsmöglichkeit zu überlassen. In den Treffen werden die verschiedenen Sichten auf die jeweiligen Text offen und ohne Wertung diskutiert und andere Sichtweisen aufgezeigt.
Im Mittelpunkt vieler Diskussionen steht die Frage, in welchen Details oder Grundsätzen sich die Theoretiker*innen in der Zeit nach dem Wirken von Marx und Engels unterscheiden und welche Aussagen in den Grundlagen der beiden Begründer der heutigen Arbeiter*innenbewegung zu finden sind. Für viele der Teilnehmenden ist dabei interessant, die Veränderungen und Weiterentwicklungen der politischen Theorie von Marx und Engels kennenzulernen und auch ihre vorhandenen Neubewertungen in der Analyse zu diskutieren.
Der Marx-Lesekreis der NaturFreunde Berlin ist ein Versuch, anhand der Theorien der Klassiker aktuelle Diskurse in der politischen Linken verstehbar zu machen und Erklärungen für die heutigen Differenzen in der Einschätzung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuzeigen. Indem die Teilnehmer*innen die zum Teil konträren Positionen der klassischen Schriften kennenlernen, erhalten sie theoretische Argumente für die verschiedenen bis heute diskutierten Positionen innerhalb der Nachfolgeorganisationen der ehemaligen Arbeiter*innenbewegung.
Die Debatten sind ohne Hierarchien und offen angelegt. Alle Beiträge und Meinungen werden in offener Atmosphäre angehört und dann diskutiert. Bewertungen über ‚richtig und falsch‘ sind im Lesekreis keine Kategorie, da es nicht um Überzeugen, sondern um Vermittlung von Wissen und die Darstellung unterschiedlicher Interpretationen geht.
Interessierte und Informationen bei: Uwe Hiksch, hiksch@naturfreunde.de, Tel.: 0176-62015902